Reform der Organspende: Eine verpasste Chance?

Reform der Organspende: Eine verpasste Chance?

Jedes Jahr sterben hierzulande mehrere Hundert Menschen, weil sie kein passendes Spenderorgan bekommen. Derzeit stehen fast 9.500 Personen aus Deutschland auf der Warteliste von Eurotransplant. 

Der Bundestag diskutierte daher die Neureglung der Organspende. Der Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, der für die die Einführung einer Widerspruchslösung plädierte, fand keine Mehrheit. Nach diesem Vorschlag wäre jeder, der nicht widerspricht, automatisch potentieller Organspender geworden. Stattdessen wurde ein Gesetzentwurf angenommen, der auf mehr Aufklärung und regelmäßige Abfrage der Spendenbereitschaft setzt. In der Presse wurde diese Entscheidung mehrfach als „Verpasste Chance“ betitelt. 

Ob die Nicht-Einführung der Widerspruchslösung tatsächlich eine verpasste Chance ist, die Organspendenzahlen zu erhöhen, ist nicht ganz klar. Ein Blick in andere OECD-Länder zeigt, dass eine Widerspruchslösung nicht zwangsläufig dazu beiträgt, mehr Patienten mit passenden Organen zu versorgen. Unabhängig von der Entscheidung bezüglich der Einführung der Widerspruchslösung würde eine Reform, die in der breiten Öffentlichkeit kaum diskutiert wird, gewiss helfen: Eine Ausweitung der Möglichkeit zur Lebendspende. Hier wurde sicher eine Chance verpasst. 

Organspende: Lebend oder Hirntod

Für jede Organspende ist es notwendig, dass das Herz-Kreislauf-System des Spenders intakt ist oder künstlich aufrechterhalten wird. Eine Widerspruchslösung wäre relevant, wenn der Hirntod diagnostiziert wurde und das Herz-Kreislauf-System künstlich aufrechterhalten wird. Dies trifft etwa bei Unfallopfern zu. Da sich diese Menschen nicht mehr äußern können, wie mit ihrem Körper verfahren werden soll, sind Regeln für diesen Fall notwendig. Die doppelte Widerspruchslösunghätte alle Menschen zu potentiellen Organspendern gemacht, wenn sie nicht zu Lebzeiten explizit widersprochen hätten oder Angehörigen bekannt gewesen wäre, dass der Verstorbene gegen eine Organentnahme gewesen wäre. 

Diese Lösung haben die Abgeordneten des Bundestages abgelehnt. Wie bisher bedarf es auch zukünftig der expliziten Zustimmung. Allerdings werden Menschen fortan regelmäßig gefragt, ob sie Organspender werden wollen, so zum Beispiel bei der Beantragung eines neuen Personalausweises. Dadurch soll der Anteil potentieller Organspender in der Bevölkerung steigen. 

Evidenz aus anderen OECD Ländern

Ob die Widerspruchslösung tatsächlich zu einer höheren Organtransplantationstätigkeit geführt hätte, ist eine empirische Frage. Gesundheitsminister Spahn und SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach sind nicht die Urheber der Idee der Widerspruchslösung. Die Regelung kommt in zahlreichen Ländern zur Anwendung. Von 35 OECD-Ländern haben 17 eine Widerspruchslösung implementiert. Es liegt nahe, sich die Organspendenaktivitäten in diesen Ländern genauer anzuschauen, um den möglichen Einfluss der Widerspruchslösung zu bewerten. 

Das macht eine aktuelle britische Studie aus dem Jahr 2019. Die Forscher gehen der Frage nach, ob Länder mit Widerspruchslösung erfolgreicher darin sind, Organspenden zu ermöglichen und durchzuführen. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Die Studie findet keine statistisch signifikanten Hinweise darauf, dass die Widerspruchslösung mit einer höheren Organspende- und Transplantationsrate einhergeht. Das könne ein Hinweis darauf sein, dass andere Faktoren die Organspendenaktivität bindend begrenzen. Solche Restriktionen können etwa unzureichende intensivmedizinische Möglichkeiten kleinerer Krankenhäuser oder zu geringe personelle Ausstattung mit geschultem Personal sein. 

Widerspruchslösung: Boomerangeffekt?

Zudem konstatieren die Autoren in Ländern mit Widerspruchslösung eine statistisch signifikant niedrigere Aktivität bezüglich der Lebendspenden. In Ländern, in denen Menschen sich aktiv für eine Spende im Fall eines Hirntods aussprechen müssen, wie derzeit Deutschland, liegt die Lebendspendenquote im Durchschnitt bei 15,7 pro eine Million Einwohner. In Ländern mit Widerspruchslösung liegt die Quote bei nur 4,8. 

Warteliste: 80 Prozent Nieren

Die Relevanz der Lebendspende wird bei einem Blick auf die Wartestatistik für Organe deutlich. Am Ende des Jahres 2018 warteten in Deutschland 9.403 Patienten auf ein Spenderorgan. Rund 80 Prozent warteten auf eine neue Niere, 9 Prozent auf eine neue Leber, 8 Prozent auf ein neues Herz, 3 Prozent auf eine Lunge und weitere 3 Prozent auf eine Bauchspeicheldrüse. Menschen, die ein neues Herz, eine Lunge oder Bauchspeicheldrüse benötigen, sind auf die Organspende von Hirntoten angewiesen. Nieren und Leberteilstücke, auf die zusammen 89 Prozent der Menschen auf der Warteliste warten, können sowohl von Hirntoten als auch von lebenden Spendern gespendet werden. 

In anderen Worten: Für fast 90 Prozent der Menschen, die auf ein Spenderorgan warten, ist die Lebendspende einer Niere oder Leberteile eine Alternative. 

Lebendspende vereinfachen

Ein Problem mit Lebendspenden ist heute, dass im Umfeld eines Patienten ein Spender zwar bereit sein mag, eine Niere zu spenden, das Organ allerdings mit dem Körper des Erkrankten inkompatibel ist.

Der Nobelpreisträger Alvin E. Roth hat einen Mechanismus entwickelt, mit dem mehr Transplantationen durch Spenden von Nahestehenden möglich werden. Bei der normalen Lebendtransplantation muss das Spenderorgan eines nahestehenden Spenders passen. Bei dem von Roth entwickelten Nierentauschringen (Crossover-Spenden) ist dies nicht notwendig. Hier werden inkompatible Patienten-Spender-Paare mit anderen Patienten-Spender-Paaren vernetzt. 

In Deutschland sind diese Crossover-Spenden nicht möglich. Es ist gesetzlich verboten, Fremden ein Organ zu spenden. Hier könnte der Gesetzgeber ansetzen und Crossover-Spenden ermöglichen. 

Top Spender-Länder setzen häufig auch auf Crossover-Spenden

Die OECD-Länder mit den höchsten Transplantationszahlen pro Million Einwohner zeigen ein sehr gemischtes Bild. Die Liste wird angeführt von den USA, einem Land ohne Widerspruchslösung, gefolgt von Spanien, das zwar pro Forma eine Widerspruchslösung hat, sie in der Praxis allerdings nicht umsetzt. Deutschland ist weit abgeschlagen auf Platz 26 von 35. 

Für Deutschland ist insbesondere der Vergleich mit Korea interessant. In Korea ist die Spendenquote von Hirntoten mit 11,4 Spenden pro Million Einwohner ähnlich niedrig wie in Deutschland (10,4 pro Million Einwohner). Trotzdem ist Korea in den Top 10 mit insgesamt 79,3 Transplantationen pro eine Million Einwohner vertreten. In Korea ist nämlich im Vergleich zu Deutschland die Lebendspendenquote deutlich höher. Werden in Deutschland pro eine Million Einwohner nicht einmal 8 Organe gespendet, sind es in Korea über 42. Würden in Deutschland in ähnlichem Ausmaß wie in Korea lebend Organe gespendet, wären jährlich 2.800 zusätzliche Organspenden möglich. Im Vergleich: Im Jahr 2018 wurden in Deutschland insgesamt knapp 4.000 Transplantationen durchgeführt. 

Ein Weg, das Lebendspendenaufkommen zu erhöhen, ist die Ermöglichung von Crossover-Spenden, von denen in Korea und in sieben weiteren der 10 OECD-Ländern mit den höchsten Transplantationsquoten Gebrauch gemacht werden kann. 

Für mehr Lebendspenden

Erfahrungen aus anderen OECD-Länder zeigen, dass die Widerspruchslösung nicht unbedingt ein wirkungsmächtiges Instrument ist, um die Zahl der Organtransplantationen zu erhöhen. Das ist sie nur, wenn derzeit die Anzahl erfolgender Organspenden durch die Anzahl Hirntoter beschränkt ist, deren Organe potentiell entnommen werden können und nicht durch andere Faktoren. 

Ob die Einführung der Widerspruchslösung eine verpasste Chance ist, ist deshalb nicht sicher. Gewiss dagegen ist, dass das mit dem Festhalten am Lebendspendenverbot für Fremde und damit der Verhinderung von Crossover-Spenden eine Chance vertan wurde. Von Lebendspenden könnten Betroffene umgehend profitieren. Deshalb sollte Deutschland Ländern wie den USA oder den Nachbarn in Belgien und den Niederlanden folgen und das Transplantationsgesetz nochmals anpassen, um Organspenden an Fremde zu gestatten.

Erschienen bei: IREF. Mitautor: Dr. Alexander Fink.

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