Pünktlich zu den Ampel-Koalitionsverhandlungen kocht in Deutschland erneut eine Diskussion über die Zukunft der Kernenergie hoch. Der deutsche Sonderweg, angesichts der Herausforderungen des Klimawandels erst aus der Kernkraft und dann aus der Kohleverstromung auszusteigen, wird zunehmend kritischer hinterfragt. Die Befürworter längerer Laufzeiten argumentieren, dass ein längerer Betrieb der Kernkraftwerke einen schnelleren Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohlestromgewinnung ermöglichen würde. So rechnen zwei namentlich nicht genannte hohe Energiemanager in der Welt vor, dass bis zu eine Gigatonne CO2 durch den Weitertbetrieb der sechs deutschen Kernkraftwerke eingespart werden könnte. Dies entspräche 125 Prozent der jährlichen Treibhausgasemissionen Deutschlands.
Heftigen Widerstand gegen diese Forderung leisten die „Scientists for Future“, die in einem aktuellen Papier gegen die Forderung längerer Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke Front machen.
Die Argumente der „Scientists for Future“ überzeugen kaum und dennoch haben sie recht: Eine längere Laufzeit von Kernkraftwerken in Deutschland würde nicht zu Emissionseinsparungen führen.
Kernkraft: Renaissance in den Umfragen
Einer aktuellen Umfrage von INSA für die Bild-Zeitung zufolge sprechen sich 43 Prozent der Befragten für den raschen Ausstieg aus der Kernkraft aus. Allerdings sprechen sich ebenfalls 43 Prozent für eine Verlängerung der Laufzeiten aus. Sogar jeder vierte Wähler der Grünen ist für eine Verlängerung der Laufzeiten. Von dem Argument, dass die Kernenergie einen Beitrag gegen den Klimawandel leisten könne, waren 23 Prozent „sehr“ und weitere 30 Prozent der Befragten „etwas“ überzeugt.
Vier Einwände
Von der klimaschonenden Wirkung der Kernkraft sind die Akteure von „Scientists for Future“ nicht überzeugt. Sie führen vier wesentliche Punkte an, die gegen die Nutzung der Kernkraft sprechen, um den Klimawandel zu begrenzen. Kernkraft sei „[…] zu gefährlich, zu teuer und zu langsam verfügbar“ außerdem blockiere sie den „notwendigen sozial-ökologischen Transformationsproßzess“.
Ein guter Einwand: Gefahrenpotenzial
Der wohl valideste Einwand gegen den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ist der erstgenannte. Das Gefahrenpotenzial der derzeitigen Kernkraftwerke ist kaum abschätzbar. Ein größerer Unfall gilt angesichts hoher Standards in Deutschland als gering, doch ganz auszuschließen sind Unfälle nicht. Ob neuere Anlagen wie „Small Modular Reactors“, die sich in der Entwicklung befinden, ebenfalls unter diesem Sicherheitsmakel leiden, wie es die „Scientists for Future“-Autoren behaupten, ist derweil fraglich.
Die nichtversicherten Risiken, die mit dem Betrieb eines Kernkraftwerkes einher gehen, stellen negative externe Effekte dar, die von der Allgemeinheit getragen werden. Diese nichtversicherten Risiken sind daher ein gutes Argument gegen die Kernkraft. Dennoch: Werden Todesfälle durch Unfälle und Luftverschmutzung pro erzeugter Terawattstunde betrachtet, ist Kernkraft nach gängigen Schätzungen die sicherste konventionelle Art der Energieerzeugung. Pro erzeugter Terawattstunde Strom sind bei Kernkraft 0,07 Todesopfer zu beklagen. Niedriger sind nur die Auswirkungen bei Wind- (0,04) und Solarstrom (0,02). Bei der Erzeugung von einer Terawattstunde Strom durch Kohlekraftwerke sind 24,6 Todesfälle zu verzeichnen.
Kein guter Einwand: die Wirtschaftlichkeit und Verfügbarkeit
Die „Scientists for Future“-Autoren versuchen über viele Seiten, den Leser ihrer Studie davon zu überzeugen, dass sich Kernkraftwerke wirtschaftlich nicht lohnen. Dies gelte sowohl für den derzeitigen Betrieb als auch die Verlängerung und den Bau neuer Kraftwerke. Sollten aufgrund der Unwirtschaftlichkeit der Betriebe, die Laufzeitverlängerung oder gar der Neubau von Kraftwerken verboten werden? Solange alle relevanten Kosten durch die Betreiber getragen werden und der Betrieb tatsächlich nicht wirtschaftlich ist, braucht es kein Verbot. Private Anbieter würden schlicht auf die Produktion von Strom durch Kernenergie verzichten oder die entstehenden Verluste tragen.
Kernkraft blockiert den sozial-ökologischen Transformationsproßzess?
Die „Scientists for Future“-Autoren argumentieren zudem, dass Kernkraft die sozial-ökologische Transformation behindern würde, indem sie Innovationen und Investitionen in erneuerbare Energien erschweren würde.
Innovationen würden vor allem dadurch ausgebremst, dass Forschungsmittel in die Kernenergieforschung abflössen, die damit nicht der Erforschung erneuerbarer Energien zur Verfügung stehen würden, so die „Scientists for Future“-Autoren. Diese Nullsummenargumentation, dass für Kernkraft verwendete Forschungsgelder die verfügbaren Mittel für erneuerbare Energien reduzieren würden, ist irreführend. Es gibt kein festes weltweites Forschungs- und Investitionsbudget für Energie. Der Energiesektor konkurriert um Forschungs- und Entwicklungsressourcen mit anderen Industrien und die jeweilige Technologie – egal, ob Kernenergie oder erneuerbare Energien – muss mit entsprechenden zu erwartenden Gewinnen aufwarten.
Des Weiteren führen die Autoren an, dass Investitionen in erneuerbare Energien verhindert würden, weil die Betreiber der Kernkraftwerke am Ausbau der Erneuerbaren kein Interesse hätten und lieber ihre Kernkraftwerke ausgelastet sehen würden. Die Erkenntnis, dass Unternehmen Wettbewerb nicht gerne sehen, ist nicht neu. Solange sich Produzenten allerdings einem Wettbewerb stellen müssen und der Marktzugang offen ist, bleiben die Autoren uns eine Erklärung schuldig, wie die Kernkraftswerkbetreiber tatsächlich den Markteintritt von Produktionsstätten basierend auf erneuerbaren Energien behindern. Dank der Liberalisierung des Stromsektors in der EU ist der Wettbewerb durch Markteintritte neuer Anbieter sehr ausgeprägt. Das gilt auch und insbesondere für Anbieter erneuerbarer Energien, die zusätzlich von umfänglichen Subventionen profitieren. Angesichts des enormen Anstiegs der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien in den letzten Jahren überzeugt das Argument der erfolgreich gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien intervenierenden Atomstromlobby kaum.
Unflexible Kernkraftwerke?
Die Autoren scheinen ihren Argumenten selbst nicht zu trauen und schieben daher noch ein vermeintlich technisches Argument nach. Korrekt beschreiben die Autoren, dass durch den höheren Anteil erneuerbarer Energien die Stromproduktion schwankt und die Schwankungen durch konventionelle Kraftwerke ausgeglichen werden müssen. Sie schreiben weiter, dass Kernkraftwerke „[…] in Bezug auf Leistungsgradienten und Anfahrdauer z. B. im Vergleich zur Gasturbinen-Kraftwerken eine begrenzte Flexibilität aufweisen […]“. Es wird suggeriert, Kernkraftwelke seien zu unflexibel, um auf schwankende Nachfrage mit schwankender Produktion zu reagieren. Das ist Unsinn. Gestützt wird diese Aussage mit dem Verweis auf eine Studie von Grünwald & Caviezil (2017).
Ein Blick in die Originalstudie zeigt, dass Kernkraftwerke tatsächlich weniger flexibel ihre Leistung anpassen können als Gaskraftwerke. Allerdings sind Gaskraftwerke die flexibelsten Kraftwerke. Anders formuliert: Kernkraftwerke sind die flexibelsten konventionellen Kraftwerke gleich nach Gaskraftwerken. Dies gilt insbesondere im oberen Lastbereich der Kraftwerke. Dort kann die Stromproduktion bei Kernkraftwerken bis zu 10 Prozent der Nennleistung innerhalb einer Minute gesteigert oder gedrosselt werden. Bei Gaskraftwerken liegt der Wert bei 12 Prozent. Doch auch im Teillastbetrieb sind Kernkraftwerke flexibler als Braun- oder Steinkohlekraftwerke.
Zertifikatehandel ausgeblendet
Es ist erstaunlich, dass eine Studie, die die Wechselwirkung von Kernkraft und erneuerbaren Energien in Bezug auf ihre Klimawirkung thematisiert, mit keinem einzigen Wort den relevanten regulatorischen Rahmen der EU berücksichtigt.
Die Stromerzeugung ist Teil des europäische Emissionshandels. Dieser deckt neben der Stromerzeugung alle energieintensiven Industrien sowie den innereuropäischen Luftverkehr ab. Werden etwa bei der Stromerzeugung Treibhausgase emittiert, müssen entsprechend Zertifikate erworben werden, die anderen Produzenten nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Menge der Zertifikate ist dabei begrenzt und wird jedes Jahr verringert.
Ein naheliegender Einwand gegen die „Kernkraft als Klimaretter“ ist daher, dass es für den CO2-Gesamtausstoß der im Zertifikatehandel einbezogenen Industrien völlig irrelevant ist, ob die Kernkraftwerke weiter produzieren oder nicht. Würden die Kernkraftwerke länger am Netz bleiben und dafür Kohlekraftwerke abgeschaltet, würden die Zertifikate der Kohlekraftwerke von anderen Produzenten genutzt werden.
Zertifikatehandel und erneuerbare Energien: Die unbequeme Wahrheit
In der EU trägt die Kernkraft angesichts des europäischen Zertifikatehandels nicht zu Emissionsminderungen bei. Warum wird dieses klare Argument nicht vorgebracht? Eine naheliegende Erklärung könnte sein, dass die „Scientists for Future“-Autoren dann nicht mehr so freimütig die staatliche Förderung erneuerbarer Energien fordern könnten. Warum? Die Förderung erneuerbarer Energien trägt, ebenso wie die Kernkraft, nicht zu CO2-Nettoemissionsminderungen bei. Ersetzen erneuerbare Energien die Energieproduktion von fossilen Kraftwerken, werden dort Zertifikate nicht mehr benötigt und können von anderen Emittenten genutzt werden.
Diese Erkenntnis mag frustrierend sein, insbesondere für die deutschen Stromkunden, die viele Milliarden Euro für die Subventionierung erneuerbarer Energien aufgewendet haben und im Resultat wurden netto keine Emissionen eingespart. Doch der Emissionshandel ist nicht der „Schuldige“. Im Gegenteil: Er ist technologieneutral und erlaubt, dass die gesteckten Klimaziele mit dem geringstmöglichen Ressourceneinsatz eingehalten werden. Dass sich der deutsche Staat dennoch in Energie-Mikromanagement übt, ist dem Zertifikatehandel nicht anzukreiden.
Erschienen bei: IREF.